Im 18. Jahrhundert wurde in Schweden der Lohn auf dem Land mitunter als Schnaps ausgezahlt, weil man annahm, dass der Hochprozentige den Hunger vergessen lässt und auch vor Kälte schützt. In bestimmten Stadien des Alkoholkonsums mag diese Annahme vielleicht sogar zutreffend sein, auch wenn es sich dann womöglich nur um einen kurzzeitigen Effekt handelt. Eine gewisse Auswirkung zeigte sich jedoch bald, nämlich dass sich dieses Lohnsystem mit der Zeit zu einem wirklich massiven Alkoholproblem entwickelte und in Schweden schließlich bald schon zur Rationierung von Alkohol führte.
Das Brennen für den Hausgebrauch wurde bereits 1860 verboten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand dann auch die schwedische Abstinenzbewegung, die sich unter dem Einfluss von gleichermaßen ausgerichteten amerikanischen und englischen Organisationen entwickelte und auf ihrem Höhepunkt im Jahr 1910 fast eine halbe Millionen Mitglieder zählte. Ein Jahr zuvor führten die Abstinenzbewegungen sogar eine Unterschriftensammlung durch, die ein Totalverbot von alkoholischen Getränken zum Ziel hatte und seinerzeit angeblich von 56 Prozent der erwachsenen Schweden unterstützt wurde. Die wirtschaftlichen Interessen von einigen Privatpersonen und Unternehmen standen dieser Forderung jedoch entgegen, aber auch die des schwedischen Staates und seiner Gemeinden, weil ein wichtiger Anteil des Steueraufkommens aus dieser Einnahmequelle resultierte.
Natürlich konnte sich die Abstinenzbewegung damit nicht zufriedengeben und so legte der Stockholmer Arzt Ivan Bratt schon bald einen Kompromissvorschlag vor, der die Verstaatlichung der Alkoholproduktion und dessen Vertrieb vorsah und der den Alkoholkonsum in der Bevölkerung durch Rationierung begrenzen sollte. Nach ersten Versuchen ab 1914 in den Städten Göteborg, Jönköping und Stockholm wurde dieses System ab 1917 in ganz Schweden eingeführt. Wer dann seinen Schnaps kaufen wollte, der musste ein Rationierungsbuch (motbok) vorlegen, in dem genau vermerkt wurde, wer wann und wieviel an Hochprozentigem gekauft hat. Hat jemand also eine bestimmte Menge innerhalb einer bestimmten Zeit gekauft, so lief er Gefahr beim Überschreiten der Grenze keinen Alkohol mehr zu bekommen. Anfangs konnten nur Männer über 25 Jahre und unverheiratete Frauen ein solches motbok bekommen, dann aber auch nur, sofern sie vorher nicht durch Trunkenheit aufgefallen waren. Die maximalen Rationen änderten sich im Laufe der Zeit und lagen gegen Ende dieser Periode im Jahr 1955 bei 3 Litern Schnaps pro Monat für Männer. Unmittelbar nach der landesweiten Einführung des Bratt-Systems setzte die Abstinenzbewegung 1922 im schwedischen Reichstag aber noch die Durchführung einer Volksabstimmung durch, natürlich auch da mit dem Ziel des Totalverbots von Alkohol. Mit einem knappen Ergebnis stimmten 51 % gegen das Verbot und 49 % dafür.
1955 wurde die Rationierung abgeschafft und der schwedische Staat setzte fortan auf Aufklärungsmaßnahmen. Dies zeigte jedoch wenig Erfolg und so stieg der Alkoholkonsum danach kräftig an. Bereits 1957 führten deutlich höhere Steuern auf alkoholische Getränke zu empfindlichen Preissteigerungen und der Verkauf von Alkohol wurde zudem durch besondere Vertriebsformen erschwert. So erfolgte der Verkauf nur noch in den wenigen staatlichen Alkoholläden (systembolaget), mit restriktiven Öffnungszeiten, die lange Warteschlangen hervorriefen und durchaus zu Wartezeiten von mehr als einer Stunde führen konnten. Diese staatlichen Alkoholgeschäfte hatten damals den Charme einer uralten Apotheke, in der man eine Wartenummer ziehen musste, um nach dem Aufrufen der Nummer persönlich an dem Ladentisch bedient zu werden. 1991 wurde in manchen systembolaget die Selbstbedienung eingeführt; die hohen Preise aber blieben. Letzteres führte zu einem umfangreichen Schwarzmarkt und Schätzungen gingen zur damaligen Zeit davon aus, dass etwa ein Viertel des konsumierten Alkohols aus Schwarzbrennereien stammte oder zuvor als Schmuggelware nach Schweden geschafft worden ist. Übrigens ist die Bezeichnung systembolaget keine Erfindung der Neuzeit. Bereits 1850 gründeten Bergleute in Falun das erste Systembolaget, das den Alkoholverkauf und -ausschank in dieser Stadt im Interesse der Allgemeinheit übernahm. Die daraus resultierenden Gewinne fanden für gemeinnützigen Zwecke Verwendung.
Mit dem Beitritt Schwedens zur Europäischen Union änderte sich im Jahr 1995 vieles, aber die hohen Preise für Alkohol hatten weiterhin Bestand. Um die weiterhin hohen Zuschläge beim Kauf im systembolaget zu umgehen, orderten etwa 4 % der schwedischen Bevölkerung ihren Alkohol über den Versandweg und über andere Kanäle aus dem Ausland, natürlich illegal. Erst seit Mitte 2007 sind Schweden nicht mehr daran gebunden ausländische Spirituosen über systembolaget zu bestellen, wo man zuvor für diesen Service extra Gebühren verlangte, was ebenfalls zu hohen Endverbraucherpreisen führte. Seit 2007 ist es nun jedem Schweden möglich alkoholische Getränke im Ausland auch über den Versandhandel zu bestellen, der eingeführte Alkohol muss dann, zusätzlich zu den Versandkosten, aber noch verzollt werden.
Für viele, vor allem die im südlichen Teil Schwedens lebende Menschen, führte die am 14.01.2009 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichte Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem zu einer deutlichen Erleichterung bei der Beschaffung billigen Alkohols. Gemäß Artikel 32 dieser Richtlinie ist es jedem Schweden erlaubt, größere Mengen an Spirituosen zum privaten Gebrauch aus dem Ausland nach Schweden einzuführen. Insbesondere wenn die Einfuhr aus einem EU-Nachbarstaat erfolgt, lohnt sich sogar die Fahrt mit der Fähre zum Beispiel nach Deutschland. Denn pro im eigenen Haushalt gemeldeter Person über 20 Jahre darf der Transporteur des Alkohols maximal 10 Liter Getränke mit mehr als 22 % Alkoholgehalt einführen UND maximal 20 Liter Getränke mit 15-22 % Alkoholgehalt UND maximal 90 Liter Wein mit 3,5-15 % Alkoholgehalt UND maximal 110 Liter Bier mit mehr als 3,5 % Alkoholgehalt über die Grenze nach Schweden bringen. Man kann sich vorstellen, dass manche Schweden durchaus mit einem Anhänger und/oder Transporter zum Einkauf nach Deutschland kommen und dann umgehend nach Schweden zurückkehren. Ohne Übernachtungskosten lohnt sich ein solcher Einkaufsbummel allemal, wenn man dies denn möchte. Man nennt dies wohl auch Alkoholtourismus. Dennoch soll mit diesem Beitrag nicht der Eindruck erweckt werden, dass ein Großteil der Schweden ein Alkoholproblem haben, dem ist ganz bestimmt nicht.
Autorin: Ramona Heuckendorf – [email protected]