Entschuldigt man sich in Schweden für etwas, so antwortet der Schwede in aller Regel mit einem inbrünstig ausgerufenen „ingen fara“, egal, ob man jemandem aus Versehen auf den Fuß getreten ist oder die vor einem Monat geliehenen 10.000 Kronen (etwa 1.000 Euro) leider immer noch nicht zurückgeben kann und auch in absehbarer Zukunft dazu nicht in der Lage sein wird. Wahrscheinlich würde es selbst die schwedische Mutter dem jungen Mann entgegnen, der ihr mit schuldgekrümmten Schultern und angstgeweiteten Augen, die Baseballkappe nervös in den Händen drehend, erzählt, dass er soeben, leider und natürlich völlig unabsichtlich! ihr Kind über den Haufen gefahren hat.
Jeder, der einmal eine Fremdsprache gelernt hat, weiß, man darf Ausdrücke nicht wörtlich übersetzen. Sinngemäß bedeutet das schwedische „ingen fara“ etwa „kein Problem“. In diesem Fall aber ist die wörtliche Übersetzung „keine Gefahr“ einen Blick wert, denn sie gibt uns einen tiefen Einblick in die schwedische Mentalität. Einen sehr tiefen.
„Keine Gefahr“ sagt der Schwede, gibt somit Entwarnung, beschwichtigt, nimmt seinem Gegenüber die Angst. Angst? Komisch, hatte ich gar nicht. Denkt sich der Deutsche. Dafür hat der Schwede umso mehr, Angst, ganz fürchterliche, schlafraubende Angst vor den im Dschungel sozialer Interaktion lauernden Raubtieren zwischenmenschlicher Divergenz, die ihm nach seinem überlebensnotwendigen Harmoniebedürfnis trachten. Konflikte sind dem Schweden was dem Deutschen die Unpünktlichkeit und damit auf jeden Fall zu vermeiden. Wenn du mir das Geld nicht zurück geben kannst, kein Problem, kein Ding, lass stecken. Was sind schon ein paar tausend Kronen weniger auf dem Konto gegen ein intaktes Sozialkarma?
Aus dem Wissen, dass man mit einem falschen Wort an der falschen Stelle beträchtlichen Schaden anrichten kann, zieht der Schwede den folgerichtigen Schluss: je weniger Worte, desto geringer die Chance, etwas Falsches zu sagen. Sein Konsequenz in der praktischen Umsetzung hat dem Schweden im Ausland das Attribut „wortkarg“ oder „verschlossen“ eingetragen. Böse Münder behaupten, er öffne seinen Mund häufiger, um eine Zimtschnecke hinein, als Worte hinaus zu lassen.
Zusätzlich zur Vermeidung aller potentiell konfliktären (= aller, Anm. d. Autorin) Worte bzw. wenn sich das Reden partout nicht vermeiden lässt, z.B. weil auch Schweigen zu negativen Schwingungen in einem Gespräch führt, greift der Schwede auf probate, vom gesellschaftlich-traditionellen TÜV abgenommene Formulierungen zurück. In der Beliebtheit gleich hinter „ingen fara“ wären da „vi ska ser“ (schaun wir mal) oder „det ordnar sig“ (das wird sich schon finden). Sie alle haben den Vorteil, dass sie zwar aus aneinandergereihten Worten bestehen, aber absolut nichts sagen. Der Schwede ist ein semantischer Fuchs.
Das Wort aber, das dem Schweden am schwersten über die ohnehin halb versiegelten Lippen kommt, das ihm gleichsam wie bei Pferden die (mit Verlaub) Kotze aufgrund anatomischer Besonderheiten im Inneren stecken zu bleiben bestimmt ist, ist: „Nein“. Eine Bitte, sei sie noch so dreist, abzuschlagen, ist dem Schweden eine inherente Unmöglichkeit.
Eigentlich passt alles zusammen: Das so gerne ein „Nein“ seiende „Ja“ auf die Frage „Kannst du mir mal 10.000 Kronen leihen?“ verpuppt sich, kaum ausgesprochen in den fluffig-undurchsichtigen Kokon des Nicht-weiter-drüber-Redens, um, wenn sich schließlich herausstellt, dass der Ausleiher das Geld nicht zurückgeben kann/will, als „ingen fara“-Schmetterling wieder zum sprachlichen Vorschein zu kommen. Biologische Linguistik nennt man das.
Bei all der sprachlichen Schwammigkeit verwundert es nicht, dass man sich in Schweden zuweilen vorkommt wie in Asien mit seinen lächelnden Dauernickern, deren größter Horror es ist, das Gesicht zu verlieren. Tatsächlich bemerkte meine japanische Kollegin neulich, die Schwedische Mentalität sei der japanischen viel ähnlicher als z.B. die der Amerikaner. Wer weiß, vielleicht ist Schweden vor geraumer Weile von den Chinesen aufgekauft, sozial unterminiert und kulturell indoktriniert worden? Groß, blond und (zumindest physiologisch) blauäugig ist dort entgegen des Klischees jedenfalls kaum noch jemand.
Autor(in): Silke Gersdorf – [email protected]