Wenn man unter dem Stockholm-Syndrom “leidet”, was hat man dann? Einen Hauptstadtkoller? Oder die Nase voll vom Landleben und den Drang sich ins Getümmel der großen Stadt zu mischen?
Beides falsch! Der Begriff beschreibt ein psychologisches Phänomen, welches besagt, dass Opfer in gewissen Extremsituationen ein positiv-emotionales Verhältnis zu ihren Tätern aufbauen können. So ist es zum Beispiel nicht unwahrscheinlich, dass eine Geisel Sympathien für Ihren Entführer entwickelt, je länger die Odyssee dauert. Das ist schwer zu glauben, ist in der Form jedoch schon tatsächlich oft beobachtet worden.
1973 drang ein Fall an die Öffentlichkeit. Der damals 32-jährige Schwede Jan-Erik Olsson überfiel eine Bank in Stockholm und nahm drei junge Frauen und einen männlichen Bankangestellten als Geisel, mit denen er vier Tage im Tresorraum verbrachte. Seine Forderung an die Polizei: Geld und die Freilassung seines Komplizen, um die Erschießung der gefangen gehaltenen Menschen zu verhindern. Zum Glück konnte der Fall friedlich aufgelöst werden, indem man Gas in die Räumlichkeiten leitete. Das Kuriose jedoch: Die Geiseln waren nicht etwa erleichtert, wieder frei zu sein; sie hatten Angst vor der Polizei und sahen sie als ihre Gegner. Später setzten sie sich sogar dafür ein, dass die Haftstrafe des Täters abgemildert oder gar ganz ausgelassen wird.
Was war passiert? Ist man von seinem natürlichen Umfeld isoliert und befindet sich in einem inneren Ausnahmezustand, dann verändert sich der Blick auf den Täter, sagen Experten. Je mehr Zeit man dann mit ihm verbringt, desto besser lernt man seine Motive kennen und kann sie sogar nachvollziehen. Man sieht den Täter nicht mehr nur als Kriminellen, sondern tatsächlich als Menschen mit Gefühlen und einer Vergangenheit, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist. Und je mehr Empathie man zeigt, desto eher werden auch die Feinde des Peinigers zu den eigenen Feinden.
Jüngst war der Begriff wieder realtiv häufig zu hören – im Zusammenhang mit den Fällen um Natascha Kampusch und der Tochter von Josef Fritzl. Beide wurden jahrelang in einem Keller-Verlies festgehalten und sowohl psychisch als auch körperlich missbraucht.
Und zumindest Kampusch betonte des Öfteren, dass sie ihren Entführer dennoch nicht gehasst hätte.
Schade, dass das schöne Stockholm, das Herzstück Schwedens, mit seinem Namen für ein Phänomen steht, das auch mit derart schrecklichen Verbrechen in Zusammenhang steht.
Autorin: Nicole Schmidt – [email protected]