Dass der Schwede in der Regel recht gelassen bleibt und die meisten Dinge als angemessen und genau richtig empfindet, das haben wir schon in diesem Artikel besprochen. Aber es gibt noch eine Eigenheit, die ihn (und die Skandinavier allgemein) typischer Weise auszeichnet: Er befolgt still und heimlich ein ungeschriebenes Gesetz, das sich “Jantelagen” nennt und auf Deutsch soviel heißt, wie “Gesetz der recht und billig denkenden”.
Eingeführt wurde es vom dänisch-norwegischen Schrifsteller Aksel Sandemose, der 1933 seinen Roman “Ein Flüchtling kreuzt seine Spur” veröffentlichte, in dem er dieses Gesetz in 10 Punkten, ähnlich den 10 Geboten, dokumentierte:
- Du sollst nicht glauben, dass du etwas bist.
- Du sollst nicht glauben, dass du genauso viel bist wie wir.
- Du sollst nicht glauben, dass du klüger bist als wir.
- Du sollst dir nicht einbilden, dass du besser bist als wir.
- Du sollst nicht glauben, dass du mehr weißt als wir.
- Du sollst nicht glauben, dass du mehr bist als wir.
- Du sollst nicht glauben, dass du zu etwas taugst.
- Du sollst nicht über uns lachen.
- Du sollst nicht glauben, dass sich irgendjemand um dich kümmert.
- Du sollst nicht glauben, dass du uns etwas beibringen kannst.
Das alles klingt natürlich sehr feindlich und geht eher in Richtung Unterdrückung der Menschen. Aber ein Schwede sieht diese Punkte etwas differenzierter. Er glaubt nicht wirklich, dass er nichts wert wäre, anderen nichts beibringen könnte und dass andere klüger sind, als er selbst. Aber er glaubt an Gleichheit. Alle stehen auf der gleichen Ebene, keiner ist besser, als der andere. Das ist auch einer der Gründe, warum jeder geduzt wird.
Im Alltag begegnet einem das Gesetz häufig in Restaurants und Cafés, in denen Selbstbedienung an der Tagesordnung steht. Auch das Modebewusstsein kann man dem Jantelangen zuschreiben. Wie hier besprochen, sind die Schweden sehr trendig und immer up to date. Das kann durchaus auch etwas damit zu tun haben, dass niemand aus der Reihe tanzen oder negativ auffallen will.
In Diskussionen hält der Schwede seine echte Meinung häufig hinterm Berg. Er unterhält sich zwar gern, aber hauptsächlich zu dem Zweck, um auf einen Nenner zu kommen. Es geht nicht darum, seine Meinung pointiert herauszuarbeiten und mit Argumenten zu unterlegen, sondern zu gucken, wie man es schafft nirgendwo anzuecken und für alle einen Kompromiss zu finden.
Natürlich sind das genau die Eigenschaften, die viele andere Nationen an der schwedischen Kultur so sehr schätzen. Aber diese ewige Gleichheit bleibt auch nicht ohne Kritik. Es ist klasse, dass die Schweden niemandem seinen Wert absprechen, dass sie sich nicht für klüger halten und bescheiden und konform auftreten. Das tun sie aber auch nur so lange, wie man sich selbst an ihre Regeln hält. Meinungsfreiheit ist ja schön und gut – nur was hat man davon, wenn man schief angeguckt wird, wenn man einfach laut ausspricht, was man denkt? Und ist es wirklich so großartig, von den Nachbarn gemieden zu werden, nur weil man sich dazu entschieden hat, sich ein großes und leicht protzig wirkendes Haus zu bauen? Denn alle sind gleich, bedeutet nicht nur, dass alle die gleichen Rechte haben, sondern auch, dass sich alle gleichermaßen dieses eng geschnürte Korsett aus unausgesprochenen Regeln anziehen müssen. Und dass Ausreißer nicht geduldet werden, sei es, weil sie über das Mittelmaß hinausschweben oder Lust auf Freiheit und Individualität haben.
Zum Glück, das muss man noch dazu sagen, ist Schweden ein modernes und weltoffenes Land. Mit den Einflüssen aus anderen Kulturen und den vielen Migranten wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis das Jantegesetz in seiner strengsten Form verschwindet. Die heutige Jugend will mehr – hoch hinaus und sich von anderen abgrenzen. Und besonders in Stockholm spürt man, wie das multikulturelle Leben pulsiert und sich die strenge Bescheidenheit und der zu jederzeit gelebte Konsens im bunten Strudel der verschiedenen Einflüsse verlaufen.
Autorin: Nicole Schmidt – [email protected]