Das Jahr sollte nicht ohne Erinnerung an August Strindberg zu Ende gehen, dessen Todestag sich 2012 zum einhundertsten Mal jährte. Denn Strindberg (1849–1912) gehört nicht zu den literarischen Klassikern, die viel gelobt und selten gelesen bzw. gespielt werden. Im Gegenteil: Seine diversen Romane und Erzählungen sind – auch in deutscher Übersetzung – lieferbar und oft neu übersetzt worden, viele seiner über 60 Theaterstücke stehen nach wie vor weltweit auf den Spielplänen, und Strindberg selbst kann ohne Zweifel ein einflußreicher Autor und wirkungsmächtiger Anreger des modernen Theaters genannt werden. Gleichzeitig konnte er ein Berserker und ein großer Einsamer der Literatur sein.
Beides könnte die Vielseitigkeit Strindbergs erklären, der mehr als nur Schriftsteller war, sondern ein universeller, getrieben-genialer Geist, der sich auch als Fotograf und Maler versucht hat, als Student zwischen Medizin und Philosophie wechselte, Schauspieler werden wollte, als Hauslehrer, Chemiker, politischer Journalist und Kunstkritiker arbeitete und als Ehemann gleich mehrmals scheiterte. Seine Wohnorte waren u.a. Deutschland, Österreich, die Schweiz und Frankreich, und allein innerhalb seiner Geburtsstadt Stockholm hat er mehr als 20 Mal die Wohnung gewechselt; die letzte im sogenannten Blå tornet (Blauer Turm) in der Drottninggatan 85 ist heute als Strindberg-Museum zu besichtigen – und nachdrücklich zu empfehlen.
Für Strindberg bildete v.a. das eigene Leben den Mittelpunkt seines Werks. Schon mit 37 Jahren beginnt der „Sohn einer Dienstmagd“ (Tjänstekvinnans son; 1886) und eines musisch gebildeten, aber verarmten Vaters seine schließlich auf fünf Bände ausgedehnte Autobiographie zu schreiben. Und auch in seinen anderen Prosa- und Dramentexten sind es seine Kämpfe, (Ehe-)Krisen und Leidenschaften, seine Anlage zu großer Liebe und ebensolchem Haß, alle Verhältnisse eines in sich zerrissenen Lebens, die er seine Figuren in immer neuen Konstellationen durchleben lässt. Mit dem beißend satirischen Röda rummet (1879; dt. „Das rote Zimmer“) erlebt er einen ersten großen Erfolg als Autor. In der Folge entstehen für den schwedischen Naturalismus so maßgebende Stücke wie Fadren (1887; dt. „Der Vater“) oder der Einakter Fröken Julie (1888; dt. „Fräulein Julie“). Die sogenannte Inferno-Zeit (Inferno lautet der Titel eines 1897 erschienenen Bekenntnisbuches) endet für Strindberg vorerst um die Jahrhundertwende. Zuvor hatte sich der Sozialkritiker – u.a. durch den Einfluss Nietzsches – immer mehr zum individualistischen Wahrheits-, zugleich aber auch zum glaubensbereiten Sinnsucher gewandelt (romanhaft umgesetzt u.a. in I hafsbandet; 1890; dt. „Am offenen Meer“). Mit diesem Projekt einer ‚Mystik ohne Gott’ steht Strindberg – wie auch mit seinem äußerst ambivalenten Verhältnis zu Frauen – nicht allein; beide Phänomene sind in dieser Zeit europaweit verbreitet. Allerdings durchlebt Strindberg diese neue Lebensphase wiederum exzessiv und endet in psychischen Krisen.
Nach deren Überwindung weist er mit den Stationendramen Till Damaskus (1898–1904; dt. „Nach Damaskus“) und Ett drömspel (1902, dt. „Ein Traumspiel“) den Weg zum dramatischen Expressionismus. Nach erneuter scharfer Gesellschaftssatire (Svarta fanor, 1907; dt. „Schwarze Fahnen“) und darauffolgender Kritik gründet Strindberg, um seine Stücke überhaupt gespielt zu sehen, im gleichen Jahr ein eigenes Theater, das schon 1911 wieder schließen muss. Ein Jahr zuvor lösen einige politische Artikel die heftige, sogenannte Strindbergsfehde zwischen Konservativen und Sozialdemokraten aus. Am 14. Mai 1912 ist Strindberg an einer Krebserkrankung gestorben und später auf dem Stockholmer Nordfriedhof beigesetzt worden. Seine Beerdigung wurde auch zu einer Machtdemonstration der schwedischen Arbeiterschaft.
Trotz seiner innovativen und produktiven Kraft hat Strindberg den Literaturnobelpreis nicht erhalten – die erste schwedische Preisträgerin war 1909 Selma Lagerlöf. Am 22. Januar 1912 aber, an seinem 63. Geburtstag, bekam er eine von der schwedischen Bevölkerung gesammelte Spende von 45000 Kronen, die er selbst seinen „Anti-Nobelpreis“ nannte – eine Geschichte, die geradezu ein symptomatischer Abschluss dieses Lebens zu sein scheint. Es wirkt im Rückblick selbstprognostisch, wenn es schon in Mäster Olof (dt. „Meister Olof“), dem 1872 entstandenen Stück des 23-Jährigen, über die Titelfigur heißt: Du är född till förargelse; du är född till att slå. („Du bist zum Ärgernis geboren, du bist zu schlagen bestimmt.“).
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Autor(in): Frank – [email protected]