Am 1. März 1986 um 0:06 Uhr wird Olof Palme im Sabbatsbergs Krankenhaus für tot erklärt. Währenddessen lässt die Polizei wertvolle Zeit ungenutzt verstreichen. So dauert es über zwei Stunden, bis das Areal endlich abgesperrt wird, um Spuren zu sichern. Die Kugeln werden dabei nicht gefunden. Erst einige Tage später werden sie zufällig von Passanten entdeckt – jedoch an einer Stelle, die äußerst unwahrscheinlich für den Flugverlauf ist. Wurden sie dort platziert? Die Blei-Isotopenuntersuchung ergibt, dass es tatsächlich die Kugeln sind, die auf Palme abgeschossen wurden. Doch wie konnte man diese bei der Tatortuntersuchung übersehen?
Es sind nicht nur Pannen und Schlampereien, die die Aufklärungsarbeit immer wieder verzögern. Noch schwerwiegender sind die Fehler, die auf höchster Ebene in der Ermittlungsleitung begangen werden: Scheinbar bewusste Fehlentscheidungen, gezielte Desinformation, Kompetenzgerangel und krampfhaftes Festhalten an längst überholten Theorien. Ein Mann spielte dabei eine entscheidende Rolle: Hans Holmér.
Der Bezirkspolizeichef kommt gerade aus einem Kurzurlaub zurück, als der Mord passiert. Er sieht seine große Chance gekommen und ernennt sich kurzerhand selbst zum Chef der Ermittlungsgruppe. Holmér ist eigentlich ein Schreibtischtäter und für den operativen Bereich gänzlich ungeeignet. Trotzdem wird er die Voruntersuchung für über ein Jahr in geradezu selbstherrlicher Weise dominieren.
Holmér will schnelle Ergebnisse. Exaktheit ist weniger seine Sache. So präsentiert er der Öffentlichkeit schon nach kurzem ein Phantombild des Mörders. Dabei stützt er sich auf die Aussage einer Zeugin, die einen verdächtigen Mann in der kleinen Straße Smala Gränd gesehen hatte. Der Zeitpunkt dieser Begegnung liegt allerdings satte 19 Minuten nach der Tat. Bis zur Smala Gränd schafft man es im Laufschritt in ca. 3 bis 4 Minuten. Was sollte der Täter zu dieser Zeit noch dort getan haben? Mehr noch: Selbst die Zeugin fand, das Phantombild gebe den Mann nicht sehr gut wieder. Wenn es überhaupt der Täter war.
Zeugen gab es ja eigentlich genug. Schließlich fand der Mord an einer belebten Straße mitten in Stockholms Zentrum statt. So trug die Polizei über 20 Aussagen zusammen. Daraus destillierte sie folgendes Bild: Der Täter ist zwischen 30 und 40 Jahre alt, ca. 1,80 groß, dunkle Haare, wahrscheinlich kurzes Haar, evtl. aber auch eine Kopfbedeckung. Er trug einen dunklen, dreiviertellangen Mantel, der flatterte, als er davonlief. Auch Hose und Hemd werden als dunkel beschrieben.
Eine Beschreibung, die niemanden so recht weiter brachte. Ein Detail jedoch sollte noch eine Rolle spielen. So wurde der Gang des Täters von mehreren Beobachtern als auffällig beschrieben, und zwar als „wiegend“, „trottend“ und leicht nach vorn gebeugt.
Derweil hatte Holmér seinen Täter bereits gefasst. Anonyme Tipps hatten die Spur auf einen gewissen Victor Gunnarsson gelenkt. Gunnarsson – in der Presse lange nur als „der 33jährige“ bekannt – hatte sich mit Palme-feindlichen Aussagen hervorgetan, und das noch kurz vor dem Mord. Bei einer – illegalen – Hausdurchsuchung fanden sich rechtsradikale Schriften mit Unterstreichungen Palme-kritischer Äußerungen. Zudem wurden Zündstoff-Partikel auf Gunnarssons Kleidung gefunden, wenn auch in geringen Mengen.
Für Holmér eine klare Sache. Dumm nur, dass Gunnarsson ein Alibi für die Tatzeit hatte. In seiner Stammkneipe hatte er sich mit mehreren Personen unterhalten, die seine Anwesenheit bezeugen konnten. Doch es vergehen Monate, bis überhaupt nach diesen Zeugen gefahndet wird. Die entlasten Gunnarsson dann auch prompt. Bis dahin wird der Verdächtige jedoch mit unzähligen Verhören und Gegenüberstellungen gequält.
Holmér zieht seine Linie gegen alle Widerstände und gegen alle Logik durch. Als Konsequenz nimmt der zuständige Staatsanwalt frustriert seinen Hut. Gunnarsson wiederum wird 1993 selbst das Opfer eines Mordes. Inzwischen wohnhaft in den USA findet man seinen geschundenen Körper in der Nähe seines Wohnortes in North Carolina.
Nachdem Gunnarsson als Täter ausfällt, schießt sich Holmér auf eine andere Theorie ein: Die PKK soll es gewesen sein. Die Kurdenbewegung war kurze Zeit vorher als terroristische Organisation eingestuft worden, was unter anderem dazu führte, dass die schwedische Sicherheitspolizei die Telefone bekannter Aktivisten abhörte. Dabei war man auf ein verdächtiges Gespräch gestoßen, bei dem es vordergründig um eine Hochzeit ging.
Die kurdischen Dialekte sind für die Fahnder schwer zu verstehen, trotzdem ist man sich sicher, dass in diesem Gespräch in Wirklichkeit der Palme-Mord geplant wird. Holmér geht früh an die Presse und behauptet, dass man zu 95% auf der richtigen Spur sei. Eine Behauptung, die auf mehr als tönernen Füßen steht. Doch Holmér ist ein gnadenloser Selbstdarsteller. Unvergessen die Pressekonferenz nach dem Fund der Kugeln. Dabei präsentierte er mögliche Tatwaffen und fuchtelte in der Manier eines Westernheldes mit zwei Smith & Wesson-Revolvern vor den Kameras herum.
Aber warum eigentlich die PKK? Seit 1984 hatte man über einige der schwedischen Aktivisten eine Ausgangssperre verhängt. Außerdem wurde dem PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan Einreise und Aufenthalt in Schweden verweigert. Doch war das Grund genug für einen Mord an einem Staatslenker?
Holmér läßt sich nicht beirren und startet die Operation Alpha. Dabei setzt er sich über jegliche rechtliche Vorschriften hinweg und legt willkürlich eine bestimmte Anzahl von Kurden fest, die vorgeladen werden. Nach dem Prinzip „Viel hilft viel“ hofft Holmér, am Ende schon etwas Wertvolles in den Händen zu halten. In ganz Schweden werden Kurden verdächtigt und schikaniert. Es kommt zu unrechtlichen Hausdurchsuchungen. Doch alle festgenommenen Personen müssen wieder freigelassen werden.
Die PKK-Spur führt ins Nichts, und Holmér, der sich weit aus dem Fenster gelehnt hatte, musste schließlich seinen Hut nehmen. Mehr als ein Jahr nach dem Mord standen die Ermittlungen wieder ganz am Anfang.
In Teil III: Schwedens ewiges Trauma
Autor: Sven Weiss – [email protected]